„Well, Monsieur Schrameck, I did not understand everything…“

Ein Interview, das zum Monolog wird

Boder und Abraham Schrameck reden wortwörtlich aneinander vorbei. Doch das dokumentierte Gespräch zeigt, wie breit angelegt die Interviewsammlung Boders ist – und gibt Einblicke in die autobiografische Erzählung eines prominenten Akteurs des französischen Widerstands.

Boder interviewt den französischen Politiker Abraham Schrameck am 21. August 1946 in Paris im Haus von dessen Schwiegersohn Louis Kahn.[1] Der 1867 geborene Abraham Schrameck wuchs in einer jüdischen Familie im Elsass auf und bekleidete in der Dritten Republik hohe politische Posten als Mitglied der Parti républicain, radical et radical-socialist, einer gemäßigten linken Partei. Bereits vor dem Krieg war er antisemitischen Attacken ausgesetzt, nach der Etablierung des Vichy-Regimes wurde er 1941 inhaftiert und verbrachte danach die Zeit bis zur Befreiung Frankreichs im Hausarrest in Marseille. Er war mit 78 Jahren der älteste Interviewpartner Boders.

Entgegen der üblichen Interviewsettings ist Boder nicht mit dem Interviewten allein: Da Schrameck kein Englisch und Boder nur schlecht Französisch spricht, sind Anne Marcelle Kahn[2], die Tochter Schramecks, und deren Mann, Louis Kahn, für die Übersetzung anwesend. Beide sowie Schramecks Enkel werden am gleichen Tag interviewt.[3] Das Ehepaar Kahn übersetzt Boders Fragen ins Französische, die französischen Antworten Schramecks werden nicht übersetzt. Durch die Anwesenheit seiner Familienmitglieder kann das Interview neben Schramecks professioneller biografischer Selbstdarstellung Einblick in den familiären Hintergrund geben. Zu einem Dialog zwischen Boder und Schrameck oder einer direkten Bezugnahme aufeinander kommt es in dieser aufgezeichneten Begegnung allerdings nicht, da Boder nichts von dem versteht, was Schrameck über sein Leben berichtet. In den 26 Minuten stellt Boder gerade einmal vier Fragen und diese vollkommen losgelöst vom zuvor Gesagten. Dass Boder der Erzählung Schramecks nicht folgen kann, zeigt sich auch, als dieser nach etwa 15 Minuten mit seiner Erzählung zum Ende kommt. Boder wirkt hier vollkommen abwesend:

Abraham Schrameck: Ça suffit. J’ai répondu à votre question?

David Boder: [In English] Ahm, Yes. I'm thinking of something.

Abraham Schrameck: Pendant ce temps, à Paris où j’avais un appartement, il va sans dire que les Allemands ont fait place nette. Il n’y a rien resté de tout ce que j’avais, ni d’une bibliothèque, ni de tout ce que j’avais de mes parents, depuis plus d’une centaine d’années. Tout a été emporté, et je me suis trouvé dénué de tous moyens de recommencer ou de continuer mon ancienne existence.

David Boder: [In English, to interpreter] I want to know if there were many of your father's friends collaborating with Vichy and the Germans.[4]

Abraham Schrameck im Jahr 1925 als französischer Innenminister, Foto: Agence de Presse Meurisse, Digitale Bibliothek Gallica, CC0 1.0

Boder bezieht sich in keiner Weise auf das vorher Gesagte und richtet sein Wort direkt an Schramecks Tochter als Übersetzerin. Sein Nicht-Verstehen wird auch in Boders abschließenden Worten deutlich:

David Boder: [In English] Well, Monsieur Schrameck, I did not understand everything you said, but you said it so interestingly that I think that the people in America and our students would listen to your story with very great interest.[5]

Website „Voices of the Holocaust“, Illinois Institute of Technology, Paul V. Galvin Library, Chicago

Zum vollständigen Interview.

Dass Schrameck trotz dieser Interviewsituation einen sehr detailreichen Bericht liefert, muss eigentlich verwundern. Eine Erklärung dafür können nicht überlieferte Vorgespräche sein. Wahrscheinlich ist auch, dass Schrameck als Person des öffentlichen Lebens ein geübter Erzähler seiner Widerstandsgeschichte ist.[6] Da Boder nicht in der Lage ist, vertiefende Nachfragen zu stellen, bleibt Schrameck seinen – vermutlich schon häufig öffentlich wiederholten – Erzählmustern verhaftet. Er spricht sehr geordnet, chronologisch und stellt sich selbst als Politiker und nicht als Privatperson in den Mittelpunkt.

Ein Grund, weshalb die gesprochene Sprache für Boder eine solche Relevanz besaß, war die Annahme, dass die geschriebene Sprache Vorüberlegungen enthalte, wohingegen sich gesprochene Sprache durch Spontaneität und Schnelligkeit auszeichne.[7] Dass diese generelle Annahme anzuzweifeln ist, wird im Schrameck-Interview deutlich. Von Spontaneität kann keine Rede sein. In der ungleichen Ausgangslage der Sprachkenntnis bleibt es zwar möglich, dass Schrameck die Geschichte erzählt, die ihm relevant erscheint, für Boders psychologischen Ansatz ist dieser Interviewverlauf jedoch nicht verwertbar. Es ist dabei anzunehmen, dass es Boder bei diesem Interview weniger um sein psychologisches Erkenntnisinteresse ging. Denn schließlich gehört Schrameck nicht zur Gruppe der Displaced Persons – zwar war er als Gegner des Vichy-Regimes in Haft, aber er wurde nicht aus seiner Heimat verschleppt. Ob Boder das Interview als Hintergrundgespräch für weitere Gespräche in Paris verstand, ob er Schrameck sein Interviewprojekt vorstellen oder ihm mit der Aufzeichnung eine Ehre erweisen wollte, darüber lässt sich angesichts der Quellenlage nur spekulieren. Das Schrameck-Interview fand weder den Weg in seinen Trauma-Index noch in seine weiteren Publikationen.[8] Dies ist ein Indiz dafür, dass Boder dieser „Spule“ keinen besonderen Wert beimaß.

Abraham Schrameck und Boder begegneten sich im Interview in zwei verschiedenen Sprachen, da sie keine gemeinsame hatten. Andere Interviewte entschieden sich, ihr Interview in einer Fremdsprache zu geben, um Boder auf einer gemeinsamen sprachlichen Basis begegnen zu können. Einige wollten sich mit ihrem Gesagten an ein bestimmtes Publikum (etwa Amerikaner:innen, polnische Jüd:innen, Zionist:innen) richten oder einen Schnitt mit der eigenen Vergangenheit und Verfolgungsgeschichte machen.[9] Was Boder versäumte, war den Weg der Einigung auf die jeweilige Interviewsprache aufzuzeichnen. Wäre dies übermittelt worden, könnten heute noch Rückschlüsse auf seine und die Motivation der Interviewpartner:innen gezogen werden.

Trotz methodischer Besonderheiten, die aus heutiger Sicht verwundern, lässt sich vieles von Boders mehrsprachigem Interviewprojekt lernen: Sein Interviewsample umfasst die Erzählungen von unterschiedlichsten Erfahrungen und Schicksalen, die bei engerer sprachlicher Eingrenzung eingeschränkt worden wären. So weicht beispielsweise der Umstand, dass bei Schrameck die Übersetzung von Familienmitgliedern geleistet werden konnte, von der Realität all der Interviewpartner:innen ab, die ihre Familien im Holocaust verloren hatten. Das Interview mit Abraham Schrameck zeigt außerdem – auch gerade durch Boders abweichenden Interviewstil und die sprachlich erzwungene Zurückhaltung –, dass Menschen nach aus heutiger Sicht kurzer Zeit nach Ende des Zweiten Weltkrieges „fertige“ Narrative ihrer persönlichen Flucht-, Verfolgungs- oder Widerstandsgeschichten hatten. Dass Boders sonst übliche insistierende Interviewführung und seine immanenten Nachfragen, die er bei geteilter Sprachkenntnis stellte, auch den Effekt hatten, Erzählmuster aufzubrechen, wird im Interview mit Schrameck deutlich.

Insgesamt trug Boders mehrsprachiger Ansatz dazu bei, dass Erzählungen von Menschen mit verschiedenen Hintergründen, gesellschaftlichen Positionen und Geschichten in ein und demselben Forschungsprojekt konserviert wurden. Auch wenn das Interview mit Abraham Schrameck als Dialog gescheitert ist, macht es für heutige Hörer:innen in der Gesamtschau deutlich, wie stark die Erfahrungen von Verfolgten voneinander abwichen. Dieser breite Einblick in Lebensumstände und Verfolgungsgeschichten im ersten Jahr nach Kriegsende wäre der Nachwelt in dieser Form verlorengegangen, hätte Boder wissenschaftliche Genauigkeit vor unmittelbaren Handlungsbedarf gestellt.


  1. Genau wie Abraham Schrameck war auch Louis Kahn eine bekannte Person des (jüdischen) öffentlichen Lebens und bekleidete hohe Funktionen in der französischen Armee.
  2. Anne Marcelle Kahn war die erste Bergbauingenieurin Frankreichs und erlangte in dieser Funktion einige Bekanntheit.
  3. David P. Boder interviewt Marcelle Kahn, 21. August 1946, Paris (Frankreich), in: Voices of the Holocaust; David P. Boder interviewt Louis Kahn, 21. August 1946, Paris (Frankreich), in: Voices of the Holocaust.
  4. Schrameck: [In French] At that time, in Paris where I had an apartment, it goes without saying that the Germans made a clean sweep of the place. Nothing remained of all my things, not a bookshelf, or anything that once belonged to my parents, for more than a hundred years. Everything was taken, and I found myself deprived of any means of taking up or continuing my former life. In: David Boder interviewt Abraham Schrameck, 21. August 1946, Paris (Frankreich), in: Voices of the Holocaust, 00:15:12 – 00:16:10, (Übersetzung Deborah Joyce).
  5. Ebd., 00:24:07 – 00:24:25.
  6. Vgl. Alan Rosen, The Wonder of Their Voices. The 1946 Holocaust Interviews of David Boder, New York 2010, S. 206.
  7. Vgl. ebd., S. 206.
  8. Vgl. David P. Boder, I Did Not Interview the Dead, Urbana 1949; David P. Boder, Topical Autobiographies of Displaced People. Recorded Verbatim in Displaced Persons Camps, with a Psychological and Anthropological Analysis, Chicago und Los Angeles 1950-1957.
  9. Vgl. Rosen, Wonder, S. 209.