„Can you sing a song?"

Boders Aufnahmen von Liedern auf der Website „Music and the Holocaust"

Nicht nur die Geschichten der DPs galten Boder als bewahrenswert, er nahm auch zahlreiche ihrer Lieder auf. Die Website „Music and the Holocaust“ präsentiert eine kommentierte Auswahl.

Neben 130 Interviews umfasst die außergewöhnliche Sammlung Boders auch Aufnahmen von Gesängen und Musik sowie religiösen Gedenkzeremonien. Meistens suchte er für seine Gespräche im Sommer 1946 jüdische DP-Camps auf. Dort spielte Musik eine wichtige Rolle. Renommierte jüdische Künstler:innen besuchten die Heime und Lager, um Konzerte zu geben. Aber die Entwurzelten musizierten auch selbst – in Gruppen von Laien und professionellen Orchestern und Chören. Die Bewahrung dieser Musik machten sich viele jüdische Initiativen zur Aufgabe: Die Lieder der DPs waren ein wichtiges Zeugnis des Überlebens jüdischer Kultur, das im Nachgang der Katastrophe bewahrt werden sollte.[1] Der Dichter Shmerke Kaczerginski sammelte eine große Zahl von Gesängen in DP Camps, ebenso die Jüdischen Historischen Kommissionen. Und eben David P. Boder.

Teile dieser Sammlungen lassen sich seit 2000 auf der Website „Music and the Holocaust“ abrufen, die das ORT – ein globales Netzwerk zur Förderung jüdischer Werte – anbietet. Die Seite versteht sich als Bildungsangebot und ist anschaulich gegliedert in fünf Rubriken: Politics & Propaganda / Resistance & Exile / Restoration & Restitution / Responses / Memory. Zu allen Rubriken finden sich konzise einführende Texte, von denen aus zu wichtigen Akteuren und deren Werken verlinkt wird. Die Musikforscherin Shirli Gilbert zeichnet für die Seiteninhalte verantwortlich, die Texte verfassten ebenfalls renommierte Autor:innen wie Juliane Brauer oder Joseph Toltz.[2]

Unter dem Stichwort „Memory“ gelangt man zum Thema „Music among Displaced Persons“, wo sich eine Auswahl der von Boder aufgenommenen Gesänge finden lassen. Auch über die allgemeine Suchfunktion lassen sich mit dem Stichwort „Boder“ die insgesamt 10 Aufnahmen leicht finden.

Boder bat von Beginn seiner Reise an auch einige seiner Interviewten darum, „jüdische Lieder“ aus der Zeit des Holocaust für ihn zu singen. Wie der Boder-Biograph Alan Rosen festgestellt hat, veränderte sich dabei seine Vorgehensweise: zu Anfang bat Boder seine Gesprächspartner:innen direkt aus dem dialogischen Verlauf der Interviews heraus, ein Lied zu singen.[3] Am zweiten Tag von Boders Forschungsreise etwa, am 31. Juli 1946, besuchte Boder junge Überlebende im französischen Chateau Boucicout. Zu Beginn des Interviews mit dem 19-jährigen Kalman Eisenberg singt dieser zusammen mit anderen das Buchenwaldlied:

Kalman Eisenberg singt zusammen mit anderen Überlebenden das „Buchenwaldlied". Website „Voices of the Holocaust", Illinois Institute of Technology, Paul V. Galvin Library, Chicago

Später ging Boder dazu über, an den Orten, die er besuchte, „singing sessions“ einzuberufen und aufzunehmen. Diese verstand er jedoch eher als Einstieg, um die DPs für die Technik seines Wire Recorders zu begeistern, Vertrauen aufzubauen und sie für Interviews zu gewinnen. Viele dieser Aufnahmen überspielte er deswegen nachträglich leider wieder – er hatte nur 200 Tondraht-Spulen mit maximal 38 Minuten Speicherkapazität im Reisegepäck. Erst nach einem Monat gab er diese Methode auf und nahm ab August 1946 Gesangsvorführungen auch separat auf.
Unter diesen Aufnahmen finden sich Lieder aus der Zeit der Verfolgung genauso wie zionistische Lieder, die zukunftsgerichtet die Emigration oder den Aufbau des neuen jüdischen Staates besingen. Ein Beispiel dafür ist das Lied „Shir ha-Palmakh'“, das populäre Lied über eine Eliteeinheit der Haganah, das am 8. September 1946 in Bellevue bei Paris überlebende Kinder im dortigen Kinderheim vor Boders Mikrofon sangen.

Von Boders Aufenthalt in Bellevue sind Filmaufnahmen überliefert, die singende Kinder im Garten des Heims zeigen - allerdings ohne Ton:

Singende Kinder in einem Waisenheim im Jahr 1946
Singende Mädchen und Jungen im Garten des Kinderheims in Bellevue (bei Paris), sehr wahrscheinlich am 8. September 1946, Screenshot aus David P. Boders stummem Amateurfilmmaterial „Children at displaced persons camp“, Copyright: United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of Drs. Nicholas and Dorothy Cummings Center for the History of Psychology at University of Akron

Für alle zehn Aufnahmen Boders, die sich auf der Website finden, bietet sie Angaben zum Entstehungskontext und Inhalt, manche sind sogar transkribiert und ins Englische übersetzt. Es wird allerdings deutlich, dass für die Kurator:innen der Website der Fokus auf der gesungenen Musik als kulturelles Erbe lag – und nicht auf den Singenden als Zeug:innen oder Autor:innen. So sind die Informationen zu Inhalt und Entstehung der Lieder ausführlich, manchmal fehlt leider ein genauerer Hinweis auf den oder die Singenden oder den Entstehungsort der Aufnahme. In Kombination mit den Interviews auf der Website Voices of the Holocaust bzw. Boders eigener Einordnung am Anfang mancher Aufnahmen lässt sich dennoch für viele Aufnahmen rekonstruieren, an welcher Station von Boders Reise sie entstanden. Die ORT-Website bietet so eine ausgezeichnete Möglichkeit, diesen Aspekt der Dokumentation von Boder und die Praxen zur Bewahrung jüdischer Kultur im befreiten Europa näher zu untersuchen und besser zu verstehen. Danke an die Kolleg:innen!


  1. Boder sammelte im Unterschied zu Kaczerginski und den Historischen Kommissioenn auch Musik nicht-jüdischer Gruppen.
  2. Shirli Gilbert untersuchte in ihrer grundlegenden Studie Music in the Holocaust: Confronting Life in the Nazi Ghettos and Camps, Oxford 2005, systematisch Musik während des Holocaust. Joseph Toltz hat ebenfalls in verschiedenen Arbeiten Musik während des Holocaust analysiert und dafür mit Boders Aufnahmen gearbeitet. Vgl. z.B.: Joseph Toltz und Anna Boucher, Out of the Depths: Complexity, Subjectivity and Materiality in the Earliest Accounts of Holocaust Song-Making, East European Jewish Affairs, 48 (2019), Vol. 3, S. 309-330.
  3. Alan Rosen, The Wonder of their Voices: the 1946 Interviews of David P. Boder, Oxford 2010, S. 105 ff.