Stimmen auf Draht, digitalisiert

Das modernisierte online-Archiv „Voices of the Holocaust“

Im März 2021 hat die digitale Interview-Sammlung „Voices of the Holocaust“ zum zweiten Mal seit Gründung ihre Innovationsfähigkeit bewiesen. Dank neuer Programmierung ist das Hören, Mitlesen und Suchen in den Interviews von David P. Boder unkompliziert und zuverlässig geworden.

Als hätten wir uns abgesprochen mit den Projektpartner:innen in Chicago: Kurz vor dem Start unseres Blogs haben Archivdirektor Adam Strohm und sein Team im März 2021 die Generalüberholung für das online-Archiv „Voices of the Holocaust“ am Illinois Institute of Technology (IIT) abgeschlossen. Für 119 Interviews von David P. Boder gibt es nun einen neuen, technisch überzeugenden Auftritt unter https://voices.library.iit.edu/.

Screenshot der modernisierten Website „Voices of the Holocaust" des IIT, April 2021, Foto: Axel Doßmann

Our Congratulations! Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Wer die vorherige, zwölf Jahre alte Adobe Flash-basierte Version von 2009 noch vor Augen hat, wird die Vorteile der neuen Webseite rasch erkennen. Zunächst wird auf foto-ikonische Wiedererkennung gesetzt: Der stets gut angezogene Feldforscher David P. Boder blickt uns einmal mehr herausfordernd an, neben ihm sein legendärer Wire Recorder, Model 50. „Explore the archive“ fordert ein blauer Button auf dieser Startseite auf, im Hintergrund reflektiert der Stahldraht der historischen Tonspulen. Ein Klick führt zur Hauptseite.

Diese Überblickseite ist optisch schlicht gehalten, das Funktionale steht erneut im Zentrum, basiert jetzt auf dem open-source-System Islandora. Die Filterfunktion erlaubt auf der linken Seite wie schon vorher Zugriffe auf die Sammlung über die Kategorien: Sprache(n) des Interviews; Datum und Ort des Interviews; Nationalität; Religion; Geburtsort und Alter von Boders Interviewpartner:innen; die Orte ihrer Verfolgung und Gefangenschaft sowie ihre Rolle während des Holocausts. Dazu gibt es in Einzelfällen  gewiss auch Rückfragen, an denen sich auch unser Blog künftig exemplarisch abarbeiten wird.  

Das Wichtigste für alle künftige Arbeit mit Boders Sammlung: Mit dem Relaunch von „Voices of the Holocaust“ ist das Hören der Audio-Dokumente und das Mitlesen der Audiotranskriptionen in den Originalsprachen und in Englisch deutlich besser und wieder zeitgemäß geworden. Der Flow von Stimme und Schrift arbeitet zuverlässig synchron, kann auch sichtbar gemacht werden mit der Option: „Auto-Scroll with media“. Jeder Sprecher:in-Wechsel ist mit Time-Code-Angabe verbunden.

Das Transkript und dessen Übersetzung ins Englische lässt sich mit Stichwörtern durchsuchen. Findet die Suchmaschine das gewünschte Wort, ist sogleich das synchronisierte Audio zu hören. Auch gibt es wieder eine globale Suchfunktion, die sämtliche Interviews nach Stichworten durchforsten lässt.

Der Audio-Player ist jetzt deutlich einfacher als früher zu bedienen und arbeitet zuverlässig. Neu sind Option auf Verlangsamung (und Beschleunigung) der Abspielgeschwindigkeit – das ist bei schwer verständlichen Passagen sehr nützlich. Auf die Option für kurzes, zeitdefiniertes Zurückspulen in der Audio-Spur wurde leider verzichtet, das ist aber über das Transkript leicht möglich. Zum dominanten Medium wird damit allerdings einmal mehr die Verschriftlichung der Stimmen – das Hören wird zum Effekt logozentristischer Zeichensysteme. Dazu passt, dass – wie bereits bei Boders eigenen Übersetzungen ins Amerikanische – auch die aktuellen Transkripte nicht alle signifikanten Pausen markieren. Hilfreich sind indes die knappen Deutungsangebote für nicht-semantische Geräusche wie etwa [weint], [lacht], [seufzt] oder [beide sprechen]. Akustisch sinnlos erscheinenden Passagen sind mit [unverständlich] markiert.       

Die Webseite bietet unter „About the Project“ stringente Überblicksdarstellungen: zu Biografie und Werk von David P. Boder aus der Hand des Boder-Biografen Alan Rosen und zur Geschichte der Interviews von der Entstehung 1946 bis zu ihrer Digitalisierung heute. Es spricht für die quellenkritische Reflexion des online-Archivs, dass auch die Selbstdarstellung zum vorletzten Relaunch von 2009 verlinkt ist.
Die mit den materiell-technischen Transformationen verbundenen inhaltlichen Veränderungen bleiben damit nachvollziehbar. Wer darüber nicht nur lesen möchte, dem sei ergänzend „Ranke.2“ empfohlen, das Luxemburger Portal für Quellenkritik im digitalen Zeitalter. Die Historikerin Stefania Scagliola hat dort zusammen mit der Amsterdamer Medienagentur „All Things Moving“ die Mediengeschichte von Boders Sammlung mit Animationen vor Augen geführt.[1]
 

Ein Bildschirm auf dem man ein Video mit David P. Boder sieht
Momentaufnahme aus der Animation von „All Things Moving“ auf ranke2.uni.lu. Foto: Axel Doßmann

Noch im Januar 2021 habe ich mit Adam Strohm per Zoom verabredet, dass Forschungserkenntnisse zu den Interviews von Boder, die auf unserem Blog erarbeitet werden, möglichst zügig auch die Kommentare und Transkripte der Chicagoer Sammlung bereichern und verbessern sollten. Da wir in Jena bereits etliche Neutranskriptionen realisiert haben, wird es künftig gute Gründe für intensivierten Austausch mit dem IIT in Chicago geben.

Das Team der Archivare und Bibliothekare in der Paul V. Galvin Library hat auch für diesen Relaunch historische Beratung herangezogen. Erneut haben viele Wissenschaftler:innen ehrenamtlich Transkripte geprüft, u.a. das Jiddisch verbessert und hebräische Schriftzeichen entsprechend dem YIVO-Standard genutzt. Alle Urheber sind namentlich aufgeführt; sinnvoll wäre die Ergänzung des Zeitpunkts. Für die aufwändige Erstellung gänzlich neuer Transkripte oder eine grundlegend kritisch-vergleichende Überprüfung der tradierten Transkripte und Übersetzungen fehlten indes Mittel und Möglichkeiten.

Aufgrund fehlender Ressourcen sind auch die Kommentare am Ende der meisten Interviews von der vorherigen Webseiten-Version übernommen worden. Annotationen und Kommentare wie die von dem Chicagoer Holocaust-Forscher und Judaisten Elliot Lefkovitz sind umsichtig und hilfreich formuliert. Irritierend bleibt indes die unkritische Übernahme der Kommentare von Historiker Donald L. Niewyk. Sie stammen aus seinem längst überholten, von Alan Rosen und Jürgen Matthäus zurecht kritisiertem Buch „Fresh Wounds. Eearly Narratives of Holocaust Survival“ aus dem Jahr 1998. Auf der Kommentarebene bleibt also noch viel zu tun, Adam Strohm ist dankbar für konstruktive Hinweise.

Die kritischen Hinweise wollen die entscheidenden Vorteile der grundsanierten Webseite nicht verkennen. Dieser Relaunch von „Voices of the Holocaust“ unterstützt besser denn je die Ziele des Chicagoer Archivs:

„It is our hope that the interactive and dynamic features of the redesigned site bring Boder's efforts to life in a way never before possible, increasing the visibility and impact of the interviews, promoting deeper scholarship and analysis, and ultimately providing a richer understanding of the Holocaust and those who experienced it.” [2]
  


  1. Für noch mehr Präzision muss bis Ende 2021 gewartet werden. Dann erscheint Daniel Schuchs Dissertation zur Transformation von Zeugenschaft im Göttinger Wallstein-Verlag. Seine akribischen Archivrecherchen bieten u.a. eine genaue Darstellung zur Geschichte der Digitalisierung der erst in den 1990er Jahren wieder identifizierten Spulen mit Boders DP-Interviews. Schuch hat auch die vielen „Mütter“ und „Väter“ der Webseite „Voices of the Holocaust“ rekonstruiert.
  2. https://voices.library.iit.edu/voices_projecthttps://voices.library.iit.edu/voices_project