David P. Boder scheute 1946 selten eine Frage und intervenierte sofort, wenn er etwas nicht verstand. Hier kommt weniger persönlicher Stil zum Ausdruck, sondern unterschiedliche zeitgenössische Konventionen, die die Interviewführung prägten.
Am 31. August gelangte David P. Boder in das norditalienische DP-Lager Tradate. Er interviewte dort neun jüdische Überlebende. Das Gespräch mit dem aus Lemberg stammenden Isaac Wolf kam nach einer guten Stunde zum Ende.[1]
Nach dem facettenreichen Überlebensbericht bemerkte Boder: „es war alles sehr interessant und sehr wichtig. Ich denke, Sie haben mir da eine gute – Geschichte erzählt“. Woraufhin sein Gesprächspartner in Jiddisch einwarf: „Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt.“ Boder fügte versöhnlich-glättend hinzu: „Nun, ja, ich sage eben, Sie haben mir einen guten Report gegeben und so Manches ist klar geworden und so Manches wird klarer werden, wenn die Leute dieses - Dokument studieren werden."[2]
Boder pausierte vor den Begriffen „Geschichte“ und „Dokument“. Das könnte neben möglichen eigenen Formulierungsschwierigkeiten im Deutschen[3] darauf hindeuten, dass er nach einem treffenden Begriff suchte, einem, dem auch sein Interviewpartner zustimmen konnte.
In diesem Wortwechsel scheint die Bandbreite dessen auf, was Interviews Boder zufolge bereithalten können: eine gute Geschichte, einen klaren Bericht und ein Dokument zur zukünftigen, vertiefenden Erforschung. Die Termini deuten implizit aber auch auf potentiell widersprüchliche, zumindest nicht leicht miteinander in Einklang zu bringende Motivationen und Ansprüche im Umgang mit Überlebenszeugnissen hin – sowohl in Bezug auf Boders Tätigkeit als auch auf unsere heutige Auseinandersetzung mit seinen Interviews.
Die Formulierung „gute Geschichte“ zum Beispiel verweist heute auf den narrativen Charakter von testimonies: Erinnerte Erlebnisse müssen vom Überlebenden zunächst einmal zur Weitergabe ausgewählt, ihre Reihenfolge festgelegt und geeignete Ausdrucksweisen gefunden werden, auch wenn diese Selektionsprozesse nicht immer Ergebnis bewusster Reflexion sind. Auswahl, Anordnung und Ausdrucksformen selbst sind stark situationsbedingt. So können Fragen und Rückfragen des Interviewers die „eigene“, halbwegs zurechtgelegte Geschichte sowohl inhaltlich als auch strukturell herausfordern. Boder beispielsweise bestand häufig auf Chronologie, auch wenn seine Gesprächspartner:innen eigentlich anders vorgehen wollten. Als Kalman Eisenberg vom Verlust naher Angehöriger erzählte, unterbrach Boder ihn mit den Worten: „Warten Sie. Ich will das gleich ‚in order‘“.[4] Unsere heutigen Sensibilitäten gegenüber Holocaust-Überlebenden führen leicht dazu, dass wir uns über Boders Eingriffe ärgern. Doch ohne sie hätten wir viele Informationen gar nicht.
Was Alan Rosen als Boders „craving for facticity“[5] bezeichnet hat, verweist nicht etwa auf eine persönliche „Macke“ Boders, sondern auf Konventionen, denen Boder verhaftet war. So spielen damalige wissenschaftliche Praktiken und Konzepte zum Umgang mit „personal documents“ im Allgemeinen für sein Verhalten eine Rolle. Boder war geprägt von der soziologischen „Chicago School“, die sozialwissenschaftliche Forschung auf der Basis persönlicher Quellen propagierte. Boder war auch vertraut mit der „Polish Method“, nach der Schreibwettbewerbe zur Lebensgeschichte öffentlich ausgeschrieben wurden, um sie zur Erforschung bestimmter Bevölkerungskreise zu nutzen.[6]
Zu den Faktoren, die das Sammeln von Holocaustzeugnissen in der Nachkriegszeit prägten, gehören ferner juristische Konventionen, denn Berichte von Zeug:innen der Verfolgung sollten potentiell auch als Beweismaterial in NS-Gerichtsverfahren sowie als Basis für Entschädigungszahlungen für die Opfer dienen. Darüber hinaus sollte in alter jüdischer Tradition die Judenverfolgung von ihren Opfern selbst dokumentiert werden, u.a. indem ihre Überlebensgeschichten erfragt und gesammelt wurden. Dafür gab es Regelwerke: Die Interviewer:innen der Zentralen Jüdischen Kommission in Warschau zum Beispiel, ordneten richtliniengemäß ihre Gesprächsnotizen chronologisch, bevor sie sie für die Überlebenden in der Ich-Form zu Papier brachten. Im Zuge dieser Bearbeitungen wurden die Interviewer:innen zu Autor:innen.
Gerade vor dem Hintergrund dieser „montierten“ Mehrstimmigkeit[7] vieler früher Zeugnisse sind Boders Gespräche für uns heute so wertvoll. Anders als in vielen schriftlichen Protokollen wird im akustisch überlieferten Interview die Dialoghaftigkeit und die Dynamik des Entstehungsprozesses nicht verdeckt; die Worte der Überlebenden werden nicht nur fragmenthaft mit den Formulierungen der Interviewer:innen bzw. der Protokollant:innen tradiert. Mit Boders Interviews gewinnen wir die Chance zu hören, was die Befragten wirklich gesagt haben und wie sie es gesagt haben – in welchem Tonfall, mit welchen Pausen, wie die Stimmen klangen.
Wenn Boder die Aussagen von Isaac Wolf als „klaren Bericht“ bezeichnet, scheint darin wohl der historiographische Anspruch seiner Zeit auf, „objektive“ geschichtliche Quellen zu erstellen. Es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis durch „Geschichte von unten“, die Entstehung der oral history-Bewegung sowie die Emotionengeschichte ein „history-telling“[8] auch wissenschaftlich akzeptabel wurde. Diese Entwicklung hätte wohl Boders Beifall gefunden, vereint es doch zwei expressis verbis geäußerte Ziele Boders, nämlich Überlebende „for psychological as well as historical reasons“ nach ihren Erlebnissen zu befragen.[9]
Sowohl Boder als auch seine Gesprächspartner:innen waren 1946 geprägt von den vielfältigen Normen ihrer Zeit, die sich auf die Interviews auswirkten. Anstatt das zu bedauern, sollten wir die Herausforderung annehmen. Manche Merkmale dieser Gespräche wirken auf uns heute fremd oder befremdlich. Wie Brechts Verfremdungseffekt regt uns gerade unsere Verstörung dazu an, die Entstehungskontexte von Boders Projekt gründlich mit zu erforschen und das Überlieferte kritisch zu verstehen – und damit besser.
Auch die Stimmen der DPs, die wir heute dank der digitalisierten Aufzeichnung vernehmen können, sind keine „unberührten“, sozial, politisch oder kulturell unbeeinflussten Gedanken dieser Menschen. Boder hoffte, dass eine „art of listening to authentic recordings“ entwickelt werde. Er schrieb auch von einer „art of verbatim recording of personal experiences“.[10] Dieses imaginierte „upskilling“ scheint einen von Boder nicht reflektierten Widerspruch zu bergen: Wie können Aufnahmen, wenn sie erst zu Kunstformen geworden sind, noch authentisch sein?
Doch es besteht hier nur dann ein Widerspruch, wenn wir Kunst als künstlich und Authentizität als kontextunabhängiges Ideal sehen. Beides geht zusammen, wenn wir Authentizität von Holocaustzeugnissen primär ethisch begreifen: Allen an der Erstellung und Deutung solcher Zeugnisse Beteiligten sollte es doch letztlich darum gehen, nach ihrem Vermögen bestmöglich zur fortdauernden Auseinandersetzung mit den Wahrheiten der Verfolgung beizutragen. Das ist die Kunst, auf die es ankommt.