Selbstbehauptung

Wie Bella Zgnilek den Kreis ihrer Erzählung dennoch schloss

„Oral History“ verfügt heute über klare Qualitätskriterien zur Interviewführung – denen Boder mit seinem forschen Interviewstil nicht gerecht wird. Bella Zgnilek schafft es dennoch, eine für sie relevante Erzählung zu etablieren.

Ausschnitt aus dem Deckblatt von Boders Transkript für sein Interview mit Bella Zgnilek in Band 14 der „Topical Autobiographies" (1956). Foto: Axel Doßmann.

Hört man sich David Boders Interviews heute an, fällt zunächst die schlechte Tonqualität auf. Angesichts der damals verwendeten Technik ist das keine große Überraschung. In Erstaunen versetzt eher, dass die Stimmen dennoch so irreal präsent sind. Dann aber drängt sich der große Druck in den Vordergrund, den Boder auf seine Gesprächspartner:innen auszuüben scheint. Die Gesprächsatmosphäre wirkt gelegentlich gehetzt und damit aus heutiger Sicht alles andere als für ein Interview geeignet.[1] Vergegenwärtigt man sich, wann die Interviews geführt wurden, dann verweist Boders Verhalten als Interviewer umso mehr darauf, wie sehr sich der Umgang mit Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung und ihren Äußerungen verändert hat.

Heute stehen Respekt und die Öffnung von Erzählräumen meist im Vordergrund der Interviewführung. Zu den Ansprüchen der deutschsprachigen Oral History gehört, möglichst wenig zu unterbrechen, Personen ausreden und ihnen die Entwicklung ihrer eigenen „Relevanzkriterien“ zu überlassen.[2] Das war jedoch nicht immer so. Wirft man etwa einen kritischen Blick auf die Interviews, die seit den 1990er Jahren in der Bundesrepublik mit Überlebenden der NS-Verfolgung geführt werden, so wird man auch darin auf Interviewer:innen stoßen, die diesen methodischen Ansprüchen nicht gerecht werden. Sie waren eher daran interessiert, Antworten auf ihre Fragen zu erhalten und unterscheiden sich nicht sonderlich von Boders Verhalten.[3]

Beim Hören des Interviews mit Bella Zgnilek wird deutlich, dass Boder trotz vielfältiger technischer und finanzieller Einschränkungen einen guten, weil erzählanregenden Einstieg gewählt hat. Mit der Bitte, ihr eigenes Schicksal ins Zentrum der Erzählung zu stellen, fokussiert er auf sie und ihr Erleben: „Don’t tell me much what happened to other people, just to you or your family“.[4] Er schien im Folgenden aber doch weniger an eigenständigen Erzählungen als an genauen Begriffen und Erklärungen interessiert gewesen zu sein.[5] Als Bella Zgnilek vom Tod ihres Bruders erzählt, fasst er dies mit dem Begriff „infringement of curfew“ zusammen, gewissermaßen als eine rationale Begründung für seine Ermordung.

Website „Voices of the Holocaust“, Illinois Institute of Technology, Paul V. Galvin Library, Chicago

Dies hinterlässt den Eindruck, als hätte Boder diese versachlichende Erklärung eines sinnlosen Todes viel mehr benötigt als sie selbst. Vielleicht brauchte tatsächlich der Wissenschaftler eher eine rationale Erklärung für das Gehörte, um es damit bannen und sich davon distanzieren zu können, als die junge Frau, die es selbst erlebt hatte. Denn Zgnilek stellte das Schicksal ihres Bruders, der bereits zwei Monate nach dem deutschen Einmarsch erschossen worden war, an den Anfang ihrer Antwort. Sie schilderte damit in wenigen Worten eine typische Szene der deutschen Besatzung mit ihrer unumschränkten Macht, die auf einen Verstoß gegen die Regeln mit massiver Gewalt reagierte. Was das für sie bedeutete, welche Gefühle sie damit verband und welche Schlüsse sie daraus zog, konnte sie nicht ausführen, da Boder sie nach wenigen Sätzen unterbrach und mit Detailfragen anschloss, die keine Erzählung ermöglichten, sondern kurze Antworten nach sich zogen. Damit ist ein Prinzip des Gesprächs mit der jungen Frau benannt. Boder stellte überwiegend geschlossene Fragen über Einzelheiten, ohne den Eindruck zu erwecken, übermäßig an den darauffolgenden Antworten interessiert zu sein. Bella Zgnileks Antwort auf die Eingangsfrage gehört zu den längsten von ihr gesprochenen und ist doch insgesamt sehr kurz.[6] Allerdings halte ich diese unabsichtliche, aber von Boders Verhalten verhinderte Erzählung über das Schicksal ihrer Familie für bedeutsam, um die Interaktion zwischen den beiden zu verstehen, aber auch, um sich der zentralen Aussage der Befragten zu nähern und möchte dies über die verhinderte Eingangserzählung hinaus mit dem Interviewverlauf selbst belegen.

Eine weitere für das Interview charakteristische Passage wird mit einer von Boders typischen Detail-Nachfragen eingeleitet. Sie zielt auf den Bereich der persönlichen Hygiene. Er fragte: „And how did you handle you laundry? Or did you wash your clothing?“ Im Transkript steht ein erläuterndes [giggles], kichernd, vor Zgnileks Antwort. Als ich mir die Passage anhörte, kam es mir eher wie ein etwas ärgerliches Schnauben vor. Das würde zu ihrer Antwort passen, die zum ersten Mal nicht entgegenkommend, sondern unwirsch klingt: „Everybody knows that in the camp it wasn’t so clean.“ Für einen kurzen Moment erlaubte sie sich, Stellung zu nehmen zu Boders Anspruch, Fakten und keine Deutungen seines Gegenübers zu erhalten. Anschließend riss sie sich wieder zusammen und beantwortete gewissenhaft weitere Detailfragen.

Website „Voices of the Holocaust“, Illinois Institute of Technology, Paul V. Galvin Library, Chicago

Das Interview ist zwar recht kurz, aber hier spitzte sich etwas zu: Bella Zgnilek bemühte sich fortwährend freundlich auf Boder einzugehen und alle ihr gestellten Fragen prompt, knapp und in der richtigen Geschwindigkeit und Lautstärke zu beantworten. An dieser Stelle klingt Enttäuschung durch, als sei ihr in diesem Moment klargeworden, wie schwer es ist, sich verständlich zu machen, wie groß die Distanz zum Fragenden ist und wie wenig es ihr gelingt, in Worte zu fassen, was das Erfahrene für sie bedeutete. Das wiederholt sich am Ende des Interviews, als sie, nachdem sie von Boder dazu aufgefordert worden war, sehr höflich einige Worte an eine imaginierte Zuhörerschaft in den USA richtete, einem ihrer Wunsch-Zielländer. Nach einer kleinen Pause sagte sie: „Well, I will just send them regards, and I am happy that not everybody of the Jews went through such hard times/life [?] as we did.“ Offenbar reichte ihr dieser unverbindliche und durch das vorangestellte „well“ etwas resigniert klingende Gruß nicht. Daher schloss sie auf ihre Initiative [Boder: “Bella wants to add a few remarks in Polish. Go ahead, Bella.”] in ihrer Muttersprache polnisch, eine deutlichere Aussage an, die ich nach der Übersetzung ins Deutsche von Daniel Logemann zitiere.

Website „Voices of the Holocaust“, Illinois Institute of Technology, Paul V. Galvin Library, Chicago

Ich möchte Euch noch sagen, meine Freunde, dass jeder von uns Juden die Deutschen stark hassen sollte für das Leid, das sie uns angetan haben, uns und unseren Familien. Dafür, dass sie unsere Herzen gebrochen haben, dass sie unsere Häuser zerstört haben, dass all jenes wohl nie wieder wiedererstehen wird, was uns genommen wurde.[8]

In großem Kontrast zu ihrer ersten Aussage zeichnet sich hier ab, was sie eigentlich sagen wollte, hätte Boder nicht so schnell eingegriffen. Ihr Schlusswort in Polnisch spricht sie in überraschend eindringlichem Ton, überraschend deshalb, weil sie zuvor so hilfsbereit und zuvorkommend wirkte. Nun wandte sie sich direkt an eine imaginierte Gruppe ihr zugewandter Freunde, hob dabei ihren persönlichen Verlust hervor und forderte sie auf, das was „uns“ angetan wurde (unsere Herzen gebrochen), nie zu vergessen. Damit kehrte sie zu ihrer Familie zurück und erlaubte denjenigen, die es hören konnten, zu erfahren, wie es um sie stand. Mit Beharrlichkeit und Entschlusskraft nahm sie den Erzählfaden wieder auf und schloss damit gegen die Interventionen des Interviewers den Kreis ihrer Erzählung.


  1. „Die Bänder kollidieren mit unseren heutigen eingeübten Rezeptionsformen […]“. Stefanie Schüler-Springorum, Welche Quellen für welches Wissen? Zum Umgang mit jüdischen Selbstzeugnissen und Täterdokumenten, in: Dorothee Gelhard/Irmela von der Lühe (Hg.), Wer zeugt für den Zeugen. Positionen jüdischen Erinnerns im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2012, S. 175-192, hier S. 180; Jan Taubitz hat Boders Umgang mit seinen Gesprächspartnern als aus heutiger Sicht „geradezu ruppig“ bezeichnet. Vgl. Ders., Holocaust Oral History und das Ende der Zeugenschaft, Göttingen 2015, S. 58.

  2. Vgl. dazu die auf langjährigen Erfahrungen basierenden Interview-Richtlinien von Alexander von Plato, in: Ders./Almut Leh/Christoph Thonfeld (Hg.), Hitlers Sklaven. Lebensgeschichtliche Analysen zur Zwangsarbeit im internationalen Vergleich, Wien/Köln/Weimar 2008, S. 443-450.

  3. Vgl. dazu Linde Apel, Auf der Suche nach der Erinnerung. Interviews mit deutschen Juden im lokalhistorischen Kontext, in: Stefanie Fischer, Nathanael Riemer, Stefanie Schüler-Springorum (Hg.), Juden und Nicht-Juden nach der Shoah. Begegnungen in Deutschland, München 2019, S. 195-209.

  4. David P. Boder interviewt Bella Zgnilek am 4. August 1946 in Paris, in: Voices of the Holocaust.

  5. Vgl. dazu den Beitrag von Beate Müller, Verfremdungs-Effekte. Plädoyer für ein ethisches Begreifen von Überlebenszeugnissen, in: Fragen an Displaced Persons: 1946 und heute. Blog zu den Interviews von David P. Boder.

  6. Es würde sich lohnen zu prüfen, wie lange Boder Frauen und wie lange er Männer zu Wort kommen ließ. Im Vergleich zum mehr als doppelt so langen Interview mit Dimitri Odinets fällt auf, dass er ihn nicht fortwährend unterbrach. Der Akademiker war Boders Ausbilder gewesen und stand in der professionellen Hierarchie deutlich über ihm, ein naheliegender Hinweis darauf, warum er im Gegensatz zur jungen Bella Zgnilek erzählen, oder besser dozieren durfte. Vgl. dazu den Kommentar von Elliot Lefkovitz zu Boders Interview mit Dimitri Odinets am 4. Oktober 1946, in: Voices of the Holocaust

  7. Zur Bedeutung von Zgnileks Sprachenwechsel vgl. Alan Rosen, The Wonder of their voices. The 1946 Holocaust interviews of David Boder, Oxford 2010, S. 207-212.

  8. Daniel Logemann, Hasst die Deutschen! Eine Botschaft Bella Zgnileks und ihre nachträgliche Abschwächung, in: Fragen an Displaced Persons: 1946 und heute. Blog zu den Interviews von David P. Boder.