Transkribieren als archäologische Arbeit - Teil 2

Die Fortsetzung des Gesprächs über genaues Hören

Im zweiten Teil der Unterhaltung über das Transkribieren geht es um die Besonderheiten der Arbeit mit akustischen Quellen – und um frustrierende Erfahrungen.

David P. Boders „Topical Autobiographies of Displaced People“ in den Yad Vashem Archives, Yerusalem. Boder hat sich nach seiner Rückkehr aus Europa im Oktober 1946 bis ins Jahr 1957 mit einem kleinen Team den Transkriptionen und Übersetzungen seiner Interviews ins Englische gewidmet. Foto: Axel Doßmann, 2016
David P. Boders „Topical Autobiographies of Displaced People“ in den Yad Vashem Archives, Yerusalem. Boder hat sich nach seiner Rückkehr aus Europa im Oktober 1946 bis ins Jahr 1957 mit einem kleinen Team den Transkriptionen und Übersetzungen seiner Interviews ins Englische gewidmet.
Foto: Axel Doßmann, 2016

Axel: Wir sprachen im ersten Teil unseres Gesprächs über Eure Erfahrungen beim Transkribieren u.a. über falsch gehörte und inhaltlich missverstandene Aussagen. Welche Beispiele sind Dir, Lisa, besonders wichtig und warum?  

Lisa: An einigen Stellen hatte die erste Transkribierende offenbar ganze Passagen gar nicht erfasst  – vermutlich weil sie stark verrauscht waren; vielleicht auch, weil diese ersten Transkribierenden noch keine technischen Möglichkeit hatten, das Abspieltempo der digitalisierten Aufnahmen zu verlangsamen. Im Interview von Boder mit Roma Tcharnabroda stellte Boder 1946 ins Rauschen des Tonbands hinein eine Frage –  höchstwahrscheinlich nach der Menstruation der Frauen im Lager, denn Roma Tcharnabroda gibt folgende Antwort (die 2009 nicht transkribiert wurde).[1] Daraus ergibt sich zwischen den beiden ein erstaunlich offenes Gespräch über die Auswirkungen der Inhaftierung auf den weiblichen Körper:

Roma Tcharnabroda: Fast 90 Prozent, gleich, dana/ danach wenn wir ins Lager gekommen, haben wir alle die Menstruation verloren.
David Boder: [unverständlich] Wie erklärt ihr das?
Roma Tcharnabroda: Wir/ Die Deutschen erklären das. Dass, wenn wir kommen - die Durst zuerst, die Aufregung und dann – dass, äh, keine Männer da. So erklären die deutsche Ärzten. Wir konnten gar nichts bemerken, ob im Essen was war oder Trinken. Natürlich, wir waren immer zu viel angestrengt mit selben [unverständlich], um das zu bemerken, was eigentlich passiert. Jedenfalls, die neu/ über neunzig Prozent hat die Menstruation verloren.
David Boder: Und wie lange hat Sie das Zurück gedauert?
Roma Tcharnabroda: Bei manchen auf immer, bei manchen ist das/ bei mehrere ist zurückge/ äh, das gekommen.
David Boder: Nach der Befreiung? [gleichzeitig]
Roma Tcharnabroda: Ja, nach der Befreiung, nach 9, 10 Monaten.

 

Ausschnitt aus Boders Gespräch mit Roma Tcharnabroda. Website „Voices of the Holocaust", Illinois Institute of Technology, Paul V. Galvin Library, Chicago

Wodurch unterscheidet sich diese Arbeit mit den akustisch aufgezeichneten Interviews von 1946 von der Auseinandersetzung mit anderen Überlieferungen?

Lisa: Was sie mit anderen gemeinsam hat, ist, dass man durch das intensive Hören immer tiefer in die Quelle eintaucht und sich bei jeder Bearbeitung neue (Verständnis-)Dimensionen eröffnen. Aber natürlich hat die auditive Erfahrung Besonderheiten. Gesprochene Sprache und insbesondere Dialoge besitzen einen Rhythmus und eine Dynamik, über die beispielsweise ein schriftliches SS-Dokument nicht verfügt. Roma Tcharnabroda etwa spricht im gesamten Interview immer sehr bestimmt und emphatisch. An Stellen, die sie besonders hervorheben wollte, wirkte ihre Art zu sprechen auf mich fast theatralisch – oder poetisch. So beschreibt sie, wie sie im Warschauer Ghetto eine von den Deutschen erschossene Frau in ihrer Wohnung sah und fügt ihrer Beschreibung einen Imperativ hinzu:

Also. [2 Sek] Während der Aussiedlung selbst hat man Truppen von uns genommen für Arbeit. Das heißt: ich bin in ein Zimmer gekommen, wo eine alte Frau auf dem Bett lag. In der Hand hat sie eine Karte gehabt, sie wollte sich wahr/ sie wollte wahrscheinlich zeigen, dass sie irgendwo beschäftigt ist - und mit dieser Karte in der Hand und mit dem offenen Mund ist sie erschossen worden. - Der Todesschrei war noch richtig auf ihrem Gesicht. Und der offene Mund – der letzte Geschrei. Man soll nicht vergessen.[2] 

Ausschnitt aus Boders Gespräch mit Roma Tcharnabroda. Website „Voices of the Holocaust", Illinois Institute of Technology, Paul V. Galvin Library, Chicago

Zu einem späteren Zeitpunkt im Interview beschreibt sie, dass es in dem Zwangsarbeiter:innenlager der HASAG in Skarzysko-Kamienna, in dem sie inhaftiert war, wiederholt zu Vergewaltigungen von Zwangsarbeiterinnen durch deutsche Vorarbeiter und SS-Aufseher kam. Dabei empfand ich nicht nur ihr detailliertes Sprechen über sexualisierte Gewalt im Lager, sondern auch ihren Tonfall als ungewöhnlich: Ton und Wortwahl ihrer Äußerung wecken in mir die Assoziation einer öffentlichen, quasi autorisierten Anklage:

Ich gebe bekannt einen Namen von einem deutschen Meister: Krause, welcher von seiner – Tätigkeit/[3]

Dieser Versuch, den Verlauf des Interviews zu bestimmen, stößt hier allerdings auf Boders Wunsch nach Detailwissen… Und, typisch für ihn, er unterbricht sie und will die Bezeichnung des Lagers wiederholt haben: „Was war der Name?“

Ausschnitt aus Boders Gespräch mit Roma Tcharnabroda. Website „Voices of the Holocaust", Illinois Institute of Technology, Paul V. Galvin Library, Chicago

Roma Tcharnabrodas fordernde Art zu sprechen hallte in mir noch lange nach, dennoch habe ich mich nach der Arbeit an der Transkription nicht weiter mit ihr beschäftigt. Im Sommer 2020 trat Axel Doßmann mit der Idee des Blogs an mich heran. In diesem Zusammenhang teilte er mir mit, dass die junge Roma Tcharnabroda im Jahr 1951 den Freitod gewählt hatte[4] – eine Nachricht, die mich unerwartet betroffen gemacht hat. Für mich werfen die Interviews so auch Fragen zu Emotionen im historischen Kontext auf. Was machen wir mit dem Gefühl der Verbundenheit, das sich einstellt, wenn man sich lange mit einer Person beschäftigt – oder wie in diesem Fall ihr über Stunden hinweg zuhört –, die man aber nie persönlich kennengelernt hat? Ist das ein legitimes Gefühl? Vielleicht sogar ein guter Aufhänger für historisches Lernen? Oder ist das Voyeurismus und unangemessene Projektion auf längst Verstorbene?

Elisabeth: Für mich war es auch besonders eindrücklich zu merken, wie durch die Art und Weise des Sprechens unsere Aufmerksamkeit bereits gelenkt wird. Sehr häufig finden wir einen Zugang zur Vergangenheit vor allem über Textquellen. Die Rekonstruktion über die akustische Ebene bietet Zugriff auf weitere Dimensionen. Betonung und Sprechweise konkretisieren das Erzählte, indem sie Rückschlüsse auf Bewertung und Interpretation des Erzählenden zulassen. Was meine ich damit? Sicherlich kann die reine Sachinformation ebenso aus dem Transkript gewonnen werden. Wie jedoch erzählt wird, das sagt wiederum viel über die interviewte Person aus. Das gilt nicht nur für den Rhythmus des Sprechens: An welcher Stelle hebt sich die Stimme oder wird besonders betont? Wann verändert sich der normale Klang und die Sprechweise, um beispielsweise andere Personen nachzuahmen. An welcher Stelle bricht die Stimme oder kommt es zu langen Pausen? Wann ändert sich die Sprechgeschwindigkeit oder der Sprachstil? Dieses „Wie“ des Erzählens vermittelt uns also Wissen über die jeweils interviewte Person selbst und zeigt in besonderer Weise, wie das eigene Erzählen auf sie wirkte. Das bieten schriftlich überlieferte Quellen nicht.

Ein weiteres Beispiel: Der 20-jährige Abraham Kimmelmann berichtete in seinem Interview mit Boder über die Tätigkeit des Jüdischen Ordnungsdienstes, von ihm als „Jüdische Miliz“ bezeichnet. Er ging dabei auf einen von ihm beobachteten, besonders brutalen Zusammenstoß zwischen einem Vertreter des Jüdischen Ordnungsdienstes und einer weiteren Person in der Straßenbahn ein. Kimmelmann macht hier zahlreiche Pausen, spricht sehr abgehackt in unvollständigen Sätzen. Diese Sprechweise steht im Kontrast zu seinem sonstigen, meist souverän wirkenden Auftreten im Interview. Das lässt Rückschlüsse darauf zu, wie erschüttert Kimmelmann von diesem Vorfall gewesen sein muss.

Ausschnitt aus Boders Gespräch mit Abraham Kimmelmann. Website „Voices of the Holocaust", Illinois Institute of Technology, Paul V. Galvin Library, Chicago

Besonders wichtig ist die akustische Überlieferung auch für die in einzelnen Interviews enthaltenen Lieder. So bittet Boder Bella Zgnilek, ein Lied aus dem Konzentrationslager zu singen. Die Melodie, ihre Stimme, der Klang – eine emotional ergreifende Wirkung. Durch die Tonaufnahme bleiben uns diese akustischen Elemente erhalten.
Spannend ist auch, dass die Tondokumente die akustische Umgebung mit überliefern. So machen die Hintergrundgeräusche darauf aufmerksam, unter welchen Bedingungen die Interviews geführt wurden. Beispielsweise weist Boder im Interview mit Kimmelmann an einer Stelle von sich aus darauf hin, dass sie immer wieder unterbrochen wurden und das Interview nicht unter ruhigen Bedingungen durchführen konnten, was die Aufnahmequalität an dieser Stelle (Timecode: 01:09:48 ff.) beeinträchtigte. Das spiegelt sich in der Aufnahme durch häufige Hintergrundgeräusche wie fremde Stimmen wider.

Neben all den Einsichten und Erkenntnisgewinnen  habt ihr auch frustrierende Erfahrungen gemacht?

Lisa: Am Frustrierendsten ist natürlich wenn man sich nach mehrmaligem Hören damit abfinden muss, dass man eine bestimmte Stelle nicht versteht. Noch schlimmer ist eigentlich nur, wenn Boder zwischendurch das Band abgeschaltet hat.

Elisabeth: Auf alle Fälle! Und das war leider häufiger der Fall. Gerade beim mehrmaligen Hören einer Stelle war es manchmal so, dass ich unterschiedliche Wörter hörte oder eben akzeptieren musste, dass ich die Stelle nicht verstehe. Das macht aber auch noch einmal deutlich, dass es wichtig ist, dass die Interviews von mehreren Personen gehört werden. Hört der/die andere das von mir Gehörte auch? Was wird anders verstanden oder nicht? Eine solche Uneinigkeit haben wir versucht, auch im Transkript deutlich zu machen. Vermutungen oder Wahrscheinlichkeiten wurden ebenso besonders gekennzeichnet. Und klar, da bin ich ganz bei Lisa, es ist natürlich besonders hart, wenn Teile der Aufzeichnung nicht mehr existieren, weil wie im Falle von Bella Zgnilek das Band wohl abgeschaltet wurde oder wie bei Abraham Kimmelmann, die Spulen nicht vollständig überliefert wurden. Diese Teile der Interviews sind akustisch für immer verloren und werden durch uns nicht rekonstruiert werden können. Das ist und bleibt bitter.


  1. David P. Boder interviewt Roma Tcharnabroda, 24. September 1946, München (Deutschland), in: Voices of the Holocaust, 00:17:47-00:18:21.
  2. Ebd. 00:07:54-00:08:43.
  3. Ebd. 00:29:29 – 00:30:14.
  4. Siehe Axel Doßmann, Auf der Suche nach der verlorenen Materialität. Recherchen zu David P.Boders Interviews mit Displaced Persons im Sommer 1946, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 31 (2020), Heft 2 („Verstörte Sinne“), S. 121-127, hier S. 125 ff.